Samstag, 13. Mai 2017

Charlotte Berend-Corinth - Die große Liebende

Der Maler Lovis Corinth - Im Spiegel der Erinnerungen seiner Ehefrau

Mit Dank für die Bücherspende (1)
von Seiten einer verstorbenen Leserin, 
durch die dieser Beitrag angeregt worden ist.

Wer etwas über die Werke des Malers Lovis Corinth (1858-1925) (Wiki) erfahren möchte, sowie darüber hinaus auch etwas über den Menschen Lovis Corinth, der kann nicht so leicht ein besseres Buch in die Hand nehmen als jene Erinnerungen von Charlotte Berend-Corinth (1880-1967) (Wiki) an ihren Ehemann Lovis Corinth, das sie 1957 mit 77-Jahren niedergeschrieben hat (1).

Ihre Ausführungen über Lovis Corinth und über ihre Ehe mit ihm (1, 2) lesen sich fast noch eindrucksvoller als dessen eigene Autobiographie. Sie können einem den Menschen und Maler Lovis Corinth sehr nahe bringen, ja, tief ans Herz legen. Und das heißt, daß Charlotte Berend ihren Ehemann "kongenial" verstanden haben muß.

Ihr Fortleben nach seinem Tod galt bis zu ihrem eigenen Lebensende seinem Andenken und der Pflege seines Andenkens. Dies geht noch gut aus dem mit 77 Jahren geschriebenen Buch "Lovis" (1958) hervor.

Lovis Corinth hat in seinem Leben immer wiederkehrenden Phasen schwerer Depression gehabt. Diese können natürlich auch rein künstlerische, bzw. menschliche Ursachen gehabt haben. Da Lovis Corinth aber schon im Jahr 1890 Freimaurer geworden war, wird wohl auch schon einmal die Frage gestellt werden dürfen, welche Rolle die Freimaurermitgliedschaft für ihn und sein Leben gespielt hat. Kann ausgeschlossen werden, daß diese depressiven Phasen bedingt oder mitbedingt gewesen sind durch seine Mitgliedschaft in der Freimaurerei? Seine Ehefrau schreibt darüber nichts, deutet darüber auch nichts an. Wir wollen diese Frage dennoch einmal aufgeworfen haben.

Abb. 1: Lovis Corinth - Selbstportrait mit schwarzem Hut, Anfang Februar 1912
Erstes Gemälde nach seinem Schlaganfall vom 19. Dezember 1911

Charlotte Berend-Corinth schildert zunächst den nordamerikanischen Kurort, an dem sie sich aufhält zu jener Zeit, in der sie ihre Erinnerungen niederschreibt (1, S. 12):

... Welch ein hübsches Bild bietet sich mir von hier: Inmitten grüner Rasenflächen sind weiße Petunien gepflanzt, die, von der Sonne durchwärmt, ihren Duft mit der Würze der Tannen vermischen; dahinter ein kleiner See, von Weidenbäumen umstanden, und ein Säulentempelchen mitten darin, das gleich den Bäumen umgekehrt noch ein zweites Mal als zittriges Spiegelbild auf der von zwei buntfiedrigen chinesischen Enten leicht gekräuselten Wasserfläche erscheint.

Ich genieße die freundliche Idylle - doch es bedarf nur eines Wimpernschlags, und sie ist weggewischt, und ich sehe mich, eine Einundzwanzigjährige, in Berlin-Halensee, Ringbahnstraße 24, in meinem Zimmer vor dem Spiegel den kleinen schwarzen Strohhut aufsetzen und die schwarzseidene Bluse glattstreichen ...
... und sie berichtet von dem Tag, an dem sie sich mit ihren Zeichnungen bei dem Maler Lovis Corinth vorstellte, um ihn zu fragen, ob er sie als Schülerin annehmen würde. Und sie berichtet (1, S. 15):
Corinth bertrachtet die erste Seite so ernst und so intensiv, als handelte es sich um eine Zeichnung von Dürers Hand.
Wie versteht sie es, fast jedes Werk von Lovis Corinth, das sie überhaupt nur erwähnt, dem Leser ans Herz zu legen. Erwähnt sie nur in einem Nebensatz eines seiner Werke, möchte man sogleich aufspringen und es zur Hand nehmen, um es selbst zu sehen. Dieser ganze Beitrag ist verfaßt worden, weil wir ständig angeregt worden waren beim Lesen, uns die Werke von Lovis Corinth genauer anzusehen. Gleich auf der ersten Seite hatte sie geschrieben (1, S. 7):
Indes, das Herz zählt die Jahre nicht. Lovis Corinths Gestalt und meine Liebe zu ihm sind in mir nicht verblaßt. Ich werde ihn lieben, so lange ich lebe. Der Schmerz um seinen Verlust durchdrang meine ganze Existenz, verschmolz mit ihr und gab ihr die Richtung. Dies ist die einfache Wahrheit: Mit jedem Pulsschlag denke ich an ihn, der die Mitte meines Daseins war.
In ihrem ersten Buch über ihren Mann, veröffentlicht im Jahr 1948, habe sie versucht (1, S. 8),
das gemeinsame irdische Leben zurück zu beschwören. Oftmals habe ich Lovis unsichtbar in meiner Nähe gespürt. Heute, als alte Frau, bewegt mich neben diesem Menschlichen besonders, und mehr als damals, der Gedanke an sein schöpferisches Gestalten. Unausgesetzt beschäftigt mich Lovis Corinths Lebenswerk.

Wie versteht es Charlotte Berend-Corinth, in ihren Büchern der Nachwelt sowohl die künstlerische wie die menschliche Bedeutung ihres Ehemannes Lovis Corinth aufzuzeigen, ja, ans Herz zu legen. Man steht unmittelbar in ihrem Leben, unmittelbar in ihren Erinnerungen, wenn man ihre Bücher liest. 

"Dies ist die einfache Wahrheit: Mit jedem Pulsschlag denke ich an ihn"

Ihr Buch "Lovis" von 1958 ist selbst ein Kunstwerk. Man könnte der Meinung sein, daß es unter die großen Werke der Weltliteratur einzuordnen ist. Sie hat es mit 77 Jahren verfaßt. Und aus ihm geht hervor: Ihr Leben war auch noch 30 Jahre nach dem Tod von Lovis Corinth eben dieser Lovis Corinth. Und die Erinnerung an ihn. Berend-Corinth ist sich selbst bewußt, wie wenig ihre eigene Haltung und die ihres Mannes in ihr eigenes Jahrhundert paßte. So schreibt sie über ihn (1, S. 138):

"So liebte keiner wie Du" - dies Gedicht des jungen Hölderlin kommt mir in den Sinn -, "die Erd und den Ozean und die Riesengeister, die Helden der Erde umfaßte Dein Herz. Und die Himmel und alle die Himmlischen umfaßte Dein Herz. Auch die Blumen, die Bien auf der Blume umfaßte liebend Dein Herz!" Daß dies in unserem Jahrhundert tatsächlich möglich gewesen sein soll, scheint manch einem schwer begreiflich zu sein,
so schreibt sie und weiter:
"Und das ist nun derselbe Mann", höre ich bisweilen sagen, "der die sich auf den Betten herumwälzenden, sich auf dem Sofa in provozierender Nacktheit darbietenden buhlerischen Frauenkörper gemalt hat - Weiber, die, ob sie nun liegen oder stehen, sich beugen oder am Boden kauern, die Grundnatur der Anima personifizieren, wie nur ein sinnenstrotzender Kerl von einem Mannsbild sie erschaut haben kann. Wie ist das nur zu vereinbaren mit seinen Kinderbildern und den religiösen Darstellungen, die Zeugnisse des profunden Ernstes dieses selben Mannes und Künstlers sind?"

Ihre Erläuterung dazu, ihre Antwort auf diese Frage kann hier nicht vollständig wiedergegeben werden.

Abb. 2: Lovis Corinth und Charlotte Berend, 1902

In ihrem Buch "Lovis" schreibt sie dann über das für Lovis Corinth schicksalsträchtige Jahr 1911 (1, S. 142):

So gingen die Jahre eines arbeitsamen, an Erfolgen reichen und von Frohsinn erfüllten Lebens dahin. Im Jahre 1911 überbot Corinth sich selbst in seiner Produktivität.
Sie zählt die viele Gemälde einzeln auf, die er allein in diesem einen Jahr geschaffen hat. Und sie schreibt weiter (1, S. 143):
Einundsechzig Ölgemälde und ungezählte Zeichnungen, Lithos und Radierungen - zum Teil Illustrationen - brachte er mit gigantischer Schöpferkraft im Lauf dieses einen Jahres hervor. Er hatte das kolossale Gemälde "Das Paradies" begonnen, als er zusammenbrach. In der Nacht des 19. Dezember erlitt Corinth einen Schlaganfall.

Diesen Mann, dem der Körper wie eines Herkules verliehen war, gefällt zu sehen gleich einer Eiche, die der Orkan zerrissen hat - dies mit anzusehen und zu ertragen, erforderte übermenschliche Kraft. Es ist mein fester Glaube, daß Gott sie mir zufließen ließ, damit ich dem so innig Geliebten eine Pflege angedeihen lassen konnte, wie sie von keiner Krankenschwester zu fordern oder zu erwarten war.

Corinth unterwarf sich der schweren Prüfung wahrhaftig wie ein frommer Gottesknecht. Kaum gehorchten ihm seine Hände, als er bereits "Hiob" zeichnete.
Hier die Zeichnung "Hiob und seine Freunde" von 1912.
Mich porträtierte er - während ich, ihn anblickend, am Fußende seines Bettes stand - mit dem Zeichenstift auf einem Blatt, das mir das schönste  von allen erscheint, die er mir gewidmet hat. Da ist nun nichts mehr von der zu übermütigen Scherzen aufgelegten bisherigen Jugendlichkeit. Ein unbeugsamer Wille, ihn um den Preis des eigenen Opfers zu retten, drückt sich in meinen Zügen aus.(...)

Als er endlich aufstehen konnte, sah ich einen Lovis Corinth, wie ich ihn bisher nicht gekannt hatte, vor mir. Hohlwangig, mit weit aufgerissenen Augen, brütete er in seinem Sessel vor sich hin. Als er mit Einwilligung der Ärzte zum ersten Male wieder das Atelier betrat, war bereits der Februar des Jahres 1912 angebrochen. Von mir gestützt, hastete er die Treppe hinauf. Er stürmte auf den großen Spiegel zu und blickte lange, sehr lange hinein. Dann griff er sich den Pinsel und die Palette und malte in fiebernder Eile, während sein von Trauer und Leid umschatteter Blick immer wieder zum Spiegel hinüberglitt, das "Selbstbildnis mit schwarzem Hut". Erschüttert und von schrecklicher Angst um ihn gepeinigt sah ich ihm zu. Meine Empfindungen rissen mich hin und her - doch ich wagte es nicht, mich in diesen Akt schöpferischer Selbstbestätigung einzumischen.

Was für ein tiefes Verständnis entwickelt man für die Gemälde von Lovis Corinth, wenn man sie aus dem Blickwinkel der ihm Nächsten sieht, aus dem Blickwinkel von Charlotte Berend-Corinth. Womöglich erst aus dieser seiner Gebrochenheit der Jahreswende 1911/12 versteht man voll und ganz die selbstbewußten, kraftstrotzenden Gemälde in den Jahren zuvor einerseits - und die zum Teil so ganz anders gearteten Gemälde in der Zeit danach.

Es gibt auch aufregende Filmaufnahmen von drei Minuten, in denen man Lovis Corinth selbst malen sieht in der Zeit nach seinem Schlaganfall (Yt).

Auch diese Aufnahme erhält erst durch die dazu gebrachte Erläuterung von Charlotte Berend, durch ihre Gefühle und Eindrücke beim Betrachten dieser  Aufnahme ihren vollen Wert. Charlotte Berend ist, so wird einem auch dabei deutlich, ein Kulturübermittler von besonderer Bedeutung. Sie konnte der Nachwelt die Bedeutung ihres Mannes ans Herz legen wie wohl kaum ein zweiter Mensch dies getan hat oder überhaupt hätte tun können. (Hier - Yt - noch Erinnerungen der Ehefrau des Filmemachers dieser Aufnahme.)

Vergleich mit Mathilde Ludendorff

In ihren Lebenserinnerungen und andernorts hat Mathilde Ludendorff ihre Ehe mit Erich Ludendorff als eine außergewöhnliche dargestellt. Ebenso auch seinen Tod und ihr eigenes, Jahrzehnte langes "Überleben" seines Todes. Man kann nun als Nachlebender leicht zu der Beurteilung kommen, daß ihre Beschreibung ihrer Ehe eine sehr stark "übersteigerte" Beurteilung gewesen ist. Läßt man die Art wie Charlotte Berendt ihre Ehe schildert und wie sie den Künstler Corinth herauszustellen weiß, auf sich wirken, muß einem auch die Verehrung Mathilde Ludendorffs für ihren Ehemann nicht mehr als gar zu "ungewöhnlich" erscheinen.

Und sieht man sich in der Geistes- und Kulturgeschichte um, trifft man doch immer einmal wieder auf "große Liebende", die ihre eigene Liebe ähnlich groß eingeschätzt haben. Und die nach dem Tod des oder der Geliebten ihr weiteres Leben vor allem im Gedenken an sie, bzw. ihn fortsetzten.

Zu diesen kann man sicherlich Friedrich Hölderlin zählen vor und nach dem Tod von Susette Gontard. Man kann zu ihnen zählen die (erst lange nach seinem Tod bekannt gewordenen) drei deutschen Frauen von Charles Lindbergh, ebenfalls vor und nach dem Tod dieses außergewöhnlichen Menschen (siehe Beiträge dazu auf Parallelblogs). Man kann zu ihnen zählen Jane Goodall vor und nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes. Und man kann zu ihnen sicherlich auch Charlotte Berend-Corinth zählen. Beim Lesen ihres Buches ist man versucht, das Selbstverständnis ihres eigenen Fortlebens nach dem Tod von Lovis Corinth in Beziehung zu setzen zu dem Selbstverständnis des Fortlebens von Mathilde Ludendorff nach dem Tod ihres Ehemannes. Jedenfalls macht das Buch von Berendt-Corinth deutlich, daß wesentliche Aspekte davon keineswegs "einzigartig" waren, sondern eben Aspekte sind von Ehen oder Liebesbeziehungen oder auch nur tiefen Freundschaften, die von den Beteiligten als außergewöhnlich empfunden worden sind. 

/ Ergänzung 6.1.2022: Charlotte Berend-Corinth war sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite her jüdischer Herkunft. 1901 lernte sie Lovis Corinth als 21-Jährige kennen, 1903 heirateten sie. Man kennt sie zwar abgebildet auf vielen berühmten Gemälden von Lovis Corinth. Dadurch tritt jedoch in den Hintergrund, daß sie auch während ihrer Ehe eigenständig schaffende Künstlerin war. So schuf sie 1917 bis 1919 mehrere Serien von Lithographien aus dem Bühnen- und Theaterleben, ebenso Aquarelle ("Tänzerpaar", 1917) (10-13).

1930 malte sie "Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend", das im Jüdischen Museum Berlin ausgestellt ist.


Erstveröffentlichung.
Verfaßt: 23.11.2013

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  1. Berend-Corinth, Charlotte: Lovis. Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin 1959 (Verfaßt 1957, Ersterscheinen bei Langen Müller 1958) (Google Bücher)
  2. Berend-Corinth, Charlotte:  Mein Leben mit Lovis Corinth. Hamburg 1948 (verfaßt bis 1937, Ersterscheinen 1948)
  3. Bading, Ingo: Die lärmenden Freier im Hause des Odysseus. Auf: Gesellschaftl. Aufbr. - jetzt!, 10. Januar 2012 
  4. Uhr, Horst. Lovis Corinth. Berkeley: University of California Press, c1990 1990. http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft1t1nb1gf/ (Ebook; auf einer Seite)
  5. Corinth, Lovis: Die Königin Golkonde. 1920/21 (Netzseite
  6. Zeno.
  7. Artvalue. Artvalue 2
  8. Ketterer.
  9. Trieb. Folge von 6 Blatt Lithographien auf Pergament, alle vom Künstler überarbeitet und voll signiert. Um 1920
  10. Berend-Corinth, Charlotte: Max Pallenberg. 9 Original-Lithographien. Oesterheld, Berlin 1918
  11. Berend-Corinth, Charlotte: Fritzi Massary. 6 Original-Lithographien. Gurlitt Presse, Berlin 1919
  12. Berend-Corinth, Charlotte: Anita Berber. 8 Original-Lithographien. Gurlitt Presse, Berlin 1919
  13. Berend-Corinth, Charlotte: Valeska Gert. 8 Original-Lithographien. Einleitung von Oscar Bie. Bischoff, München 1920
  14. https://www.jmberlin.de/essay-charlotte-berends-lesende

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