Montag, 7. November 2016

"Sieben Jahre vor Erscheinen der Phänomenologie seines Freundes Hegel"

Originalausgaben der Werke Friedrich Hölderlins aus den Jahren 1842 und 1846, lesbar auf "Google Play Bücher", bzw. "Google Bücher" enthalten eine fast vergessene, sehr authentische Lebensbeschreibung dieses Dichters nach den Mitteilungen seines Bruders 

Auf einem Tablet kann man heute (auf der "App" "Google Play Bücher") zahllose Klassiker der deutschen und der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts und früherer Jahrhunderte lesen. So kann man dort beim Stöbern mit Suchworten wie "Hölderlin kostenlos" auf die frühesten Hölderlin-Ausgaben von Christoph Theodor Schwab aus den Jahren 1843 und 1846 stoßen, die dort über wenige Tablet-Klicks abrufbar sind (1, 2). Sie sind natürlich auch auf normalem PC über "Google Bücher" zu finden.

Ein eindrucksvoller Text aus dem Jahr 1842


Obwohl der Autor dieser Zeilen schon allerhand von und über Friedrich Hölderlin gelesen hat, auch Forschungsliteratur, auch manches in den wertvollen Studien von Dieter Henrich und seines Schülerkreises über Hölderlin - der Text "Lebensumstände des Dichters - Aus den Mitteilungen seines Bruders und seiner Freunde", datiert auf "Stuttgart im Oktober 1842" (1), also noch vor dem Lebensende Hölderlins, dieser Text war ihm noch unbekannt. Und dieser Text hat es in sich.

Abb. 1: Ein Tablet ersetzt Bücher überraschend gut
Er wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Halbbruder von Friedrich Hölderlin erarbeitet und atmet deshalb noch sehr viel von einer Authentizität, die es in späteren Texten über Hölderlin ja nie wieder geben konnte. Gerade auch deshalb ist er so berührend. Viele Einzelheiten werden so geschildert, daß sie nachvollziehbarer erscheinen als man sie jemals in einer Biographie von Seiten Dritter über Hölderlin hat finden kann. So daß sich geradezu die Frage im Hinterkopf aufdrängt: Haben denn all diese Biographen überhaupt diesen Text ausreichend berücksichtigt?

In diesem Text von 1842 wird das umfangreiche philosophische Studium Hölderlins - beginnend mit Kant - schon gebührend und wiederholt heraus gestellt. Für diesen Text ist es selbstverständlich, daß Hölderlin Philosoph ist, in ihm muß es nicht erst lang und breit "bewiesen" werden. Und über das Verhältnis von Hölderlin zu Susette Gontard finden sich in ihm so authentische Sätze wie (1, S. VIII):
Vor einem schwäbischen Landsmanne, der ihn besuchte und als Gast des Hauses den freundlichsten Empfang fand, sandte er der sorglich hin und her wandelnden das höchste Lob nach, das sein Mund erteilen konnte, indem er jenem zuflüsterte: "nicht wahr, eine Griechin?"

Schiller und Goethe haben Hölderlins Bedeutung verkannt - wußte man schon 1842


Und noch bevor die Schiller-Begeisterung in Deutschland überhaupt ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden in diesem Text von 1842 schon so ungewöhnliche, unzeitgemäße Sätze niedergeschrieben wie der folgende, und zwar über die Ratschläge Schillers an Hölderlin (1, S. VII):
Sein berühmter Landsmann Schiller, der ihn "seinen liebsten Schwaben" nannte, war ängstlich besorgt für ihn und gab ihm allerlei weise Regeln, ohne zu ahnen, daß der Durchbruch zur lauteren Kunst bei Hölderlin noch schneller und reiner erfolgen sollte als bei ihm selbst.
Das ist ein starker Satz. Da stellt sich einer im Jahr 1842 im Urteil über einen Friedrich Schiller. Und mehr noch: Aus heutiger Sicht möchte man dieses Urteil sofort teilen. Es wurde aber 1842 niedergeschrieben. Ähnlich auch wird über den daselbst auszugsweise zitierten Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe über Hölderlin gesagt (1, S. XI)
Die hohe und von Mustern und Lenkern unabhängige Eigentümlichkeit des Dichters war von den Meistern aus diesen Proben noch nicht erkannt worden.
Auch dies ein starkes Urteil - und heute sicherlich ein für gültig anerkanntes. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß in der Hölderlin-Literatur immer darauf hingewiesen wird, daß die Bedeutung Hölderlins erst seit 1910 - durch Norbert von Hellingrath - in Deutschland allgemeiner bewußt geworden sei. Diese Einschätzung muß durchaus eine Differenzierung erfahren, wenn man von diesem Text von 1842 weiß und von der großen Hochachtung, von der dieser Text gegenüber dem Schaffen Hölderlins durchdrungen ist.

Wissen um die Gemeinsamkeit des Philosophierens von Hölderlin und Hegel - 1842


Über die Zeit, als Hölderlin mit Susette Gontard in Bad Driburg weilte, wird berichtet (1, S. IX):
Während dieser Abwesenheit Hölderlins von Frankfurt hatte Hegel an ihn ein jetzt eben (durch Rosenkranz) veröffentlichtes Gedicht gerichtet, in welchem des Dichters Manier so unverkennbar ist, als die eigentümliche Lebensanschauung des Philosophen. Dasselbe erinnert den Freund an den alten Bund, "der freien Wahrheit nur zu leben."
Und weiter heißt es:
Hölderlin beschäftigte sich in derselben Zeit, neben dem Studium der Philosophie auch mit Botanik und Mathematik, strebte überhaupt nach größerer Vielseitigkeit und schien sich mehr und mehr mit der Welt zu versöhnen.
Auch diese Umstände liest man, als läse man sie zum ersten mal (1, S. XII):
Nach seiner Zurückkunft in Homburg widmete sich Hölderlin wieder mit aller Anstrengung seinen literarischen Arbeiten und vollendete ein schon in Frankfurt begonnenes Drama "Agis", dessen Manuskript zu Anfang dieses Jahrhunderts noch vorhanden war, später sich bei der Registratur der Zeitung für die elegante Welt befand, an die es Conz zum Behufe von Mitteilungen eingesendet hatte, und zuletzt mit seinem ganzen Inhalte verloren gegangen ist.

"Das Abendrot des griechischen Tages"


Verloren gegangen!?! Was tut dieser Conz? Er gibt das Originalmanuskript weg, ohne vorher eine Abschrift anzufertigen? - Der spartanische König Agis wird an einer zentralen Stelle im "Hyperion" genannt und man kann aus dieser ableiten, welchen Grundgedanken dieses Drama Hölderlins bestimmt hat. In Hölderlins Roman Hyperion heißt es:
... Endlich nach wenigen flüchtigen Worten bat mich Diotima, einiges von Agis und Kleomenes zu erzählen; ich hätte die großen Seelen oft mit feuriger Achtung genannt und gesagt, sie wären Halbgötter, so gewiss, wie Prometheus, und ihr Kampf mit dem Schicksal von Sparta sei heroischer, als irgend einer in den glänzenden Mythen. Der Genius dieser Menschen sei das Abendrot des griechischen Tages, wie Theseus und Homer die Aurore desselben. Ich erzählte und am Ende fühlten wir uns alle stärker und höher. ...
Der spartanische König Agis wollte - in Zeiten des gesellschaftlichen Niedergangs und Zerfalls - die altspartanische Lebensweise in seinem Volk wieder zum Leben erwecken. Aber er tat dies zu einer Zeit, als die Mehrheit seines Volkes dazu schon nicht mehr bereit war und das Volk deshalb kurz vor dem Erlöschen seiner historischen Eigenart stand. So wie heute Deutschland. Neben dem griechischen Philosophen Empedokles also widmete Hölderlin dieser geschichtlichen Person des Agis ein zweites Drama. Was hätte man von dem Inhalt dieses Dramas alles zu erwarten. Wie genau würde der Inhalt dieses Dramas passen gerade auf unsere Tage. Und sonderbar genug: Auf dieses wichtige Werk Hölderlins ist in der Hölderlin-Forschung kaum je ausreichend das Augenmerk gerichtet worden. Es wird ja doch in gleicher Wertigkeit Beachtung finden müssen wie der Empedokles. - - - Und dann auch dieser schönen Abschnitt (1, S. XIVf):
Bald aber bestimmte ihn der Wunsch, die große Natur der Schweiz, in welche er früher nur einen kurzen Ausflug gemacht hatte, näher kennen zu lernen und wieder Ruhe für seine Lieblingsbeschäftigung zu gewinnen. (...) Von dort aus schrieb er an seinen Halbbruder einen Brief, der einen tiefen Blick in sein Inneres tun lässt. In demselben finden sich (sieben Jahre vor Erscheinen der Phänomenologie seines Freundes Hegel) die merkwürdigen Worte: "A Deo principium. Wer dies versteht und hält, ja bei dem Leben des Lebens! der ist frei und kräftig, und freudig und alles Umgekehrte ist chimäre und vergehet in so ferne in Nichts. Und so sei denn auch unter uns bei dieser Bundeserneuerung, die gewiss nicht Zeremonie oder Laune ist, a Deo prinipium. Wie wir sonst zusammendachten, denke ich noch, nur angewandter! Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!"  
Von weitreichendem Erkenntnishorizont zeugen die Worte "sieben Jahre vor Erscheinen der Phänomenologie seines Freundes Hegel". Hier lebten Leute vom Geiste eines Dieter Henrich schon über hundert Jahre vor Dieter Henrich. Und dann dieser Abschnitt über die - sagenumwobene - Rückreise Hölderlins von Bordeaux nach Stuttgart (1, S. XVIf):
Seit Ostern 1802 hatte seine Familie keine Nachrichten mehr von dem Dichter. Aus dieser Ungewißheit wurde sie auf eine schmerzliche Weise gerissen, als im Anfang Juli's desselben Jahres Hölderlin plötzlich im traurigsten Gemütszustande bei der Mutter in Nürtingen eintraf. Unerwartet schnell hatte er im Juni 1802 seine Stelle zu Bordeaux verlassen, Frankreich (wie es heißt mit Inbegriff von Paris) in den heißesten Sommertagen von einer Grenze bis zur anderen zu Fuße durchreist, sich flüchtig seinen Freunden in Stuttgart (...) gezeigt, und war so in die Heimat gekommen. Wie es scheint, hatte er noch in Bordeaux Nachricht von der Krankheit Diotima's, und vielleicht schon auf der Reise die Kunde von ihrem Tode vernommen.

"Sieben Jahre vor Erscheinen der Phänomenologie seines Freundes Hegel"


Ein Brief Sinclairs darüber, geschrieben am 30. Juni, erreichte Hölderlin in Nürtingen. Und über die Zeit danach (1, S. XVII):
In seinen brieflichen Mitteilungen aus dieser Zeit (...) begegnen wir dem nachdenklichen Ausdruck: "höchste Bewegung und Phänomenalisierung der Begriffe."
Abb. 2: Lesen in Dresden, September 1945
Fotograf: Richard Peter, sen. (Deutsche Fotothek)
Für die Zeit zwischen 1806 und 1842 wird von den Autoren natürlich (und sicherlich fälschlicherweise) Hölderlins "Irrsinn" angesetzt. Über diesen Zeitraum schreiben sie auch (1, S. XIX):
Ein philosophisches System, dessen Keim auch in seinem eigenen Bewusstsein sich entwickeln wollte, die Erfindung eines genialen Freundes und Landsmanns (gemeint: Schellings), ist von dem rastlosen Sinnen eines andern auch weltberühmten Freundes (gemeint: Hegels) ausgebrütet worden und hat, die Sonne selbst verdunkelnd, mit Adlerstolz seinen Schwingen entfaltet.
Dieser vergleichsweise kurze Text von 1842 ersetzt ohne Frage ganze dicke Forschungsstudien und wortreiche Biographien über Hölderlin. Wer hatte diesen kurzen Text schon jemals in der Hand? Und jetzt ist er nur wenige Tablet-Klicks entfernt. Abschließend sei noch erwähnt, daß der Hölderlin-Interessierte dort ebenso die wertvollen "Briefe der Diotima" findet, die erst im Jahr 1920 erstmals veröffentlicht worden sind. Auch findet er dort die Texte von Wilhelm Waiblinger und Bettina von Arnim zu Hölderlin (4, 5).

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  1. Hölderlin, Friedrich: Gedichte. J. G. Cotta'scher Verlag, Stuttgart, Tübingen 1843 [vorangestellt: G. S., Chr. S. [[d.i. Gustav und Christoph Theodor Schwab]]: Lebensumstände des Dichters. Aus den Mitteilungen seines Bruders und seiner Freunde, S. V-XX] (GB); 3. Auflage 1847 (GB)
  2. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Hrs. von Christoph Theodor Schwab. Erster Band: Gedichte und Hyperion. J. G. Cotta'scher Verlag, Stuttgart, Tübingen 1846 (GB)
  3. Die Briefe der Diotima. Hrsg. von Karl Viëtor. Insel-Verlag, Leipzig o.J. [1921] (vollständig einsehbar auf Google Bücher und Google Play Bücher)
  4. Waiblinger, Wilhelm: Friedrich Hölderlin's Leben, Dichtung und Wahnsinn (1827). S. 221-261 (GB)
  5. von Arnim, Bettina: Die Günderode. 1. Teil, W. Levysohn, Grünberg und Leipzig 1840 (GB)

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