Sonntag, 22. Juli 2007

Das Gottlied der Kultur

Eine kurze Filmsequenz zur Veranschaulichung des Wesens des Schöpferischen


Es ist ein wesentliches Anliegen dieser digitalen Zeitschrift, das Wesen des (kulturell) Schöpferischen herauszuarbeiten (1). Wenn es dazu auch schon Vorarbeiten gibt (2), so bedürfte doch eine "theoretische" Abhandlung zu diesem Thema sicher noch einer längeren inneren Besinnung, Vorbereitung und dann auch aufwändigerer Darstellungsbemühungen. - Glücklicherweise können wir uns es in Bezug auf dieses Thema zunächst aber auch erst einmal etwas einfacher machen.

Herbert von Karajan, 1987
Sind wir doch hingewiesen worden auf eine kurze Filmsequenz aus dem "Alltagsleben" des gewiß schöpferischen deutschen Komponisten Herbert von Karajan (1908-1989). Ein Filmteam begleitete und dokumentierte im Jahr 1987 die alltägliche Arbeit von Herbert von Karajan (3). Und deshalb war es - tatsächlich rein zufälligerweise - dabei, wie Herbert von Karajan, eine der bedeutendsten Koloratur-Sopranistinnen unserer Zeit entdeckte, nämlich die Koreanerin Sumi Jo (geb. 1962) (Wiki). Ihr Name ist begreiflicherweise zwar heute jedem Musikliebhaber in Südkorea ein Begriff, womöglich aber nicht jedem musikliebhabenden Nichtkoreaner. Also mag der vorliegenden Beitrag auch als Hinweis auf diese Sängerin dienen. Und er mag auch überhaupt darauf aufmerksam machen, daß - insbesondere - klassische Kunstwerke Charakterzüge aufweisen, die "übernational", "übervölkisch" sind, und die deshalb von allen Völkern auf dieser Welt wahrgenommen werden können und für sie ein Zugang zum Göttlichen sein können (1).

Bei dem Video, auf das wir mit diesem Beitrag hinweisen wollen, handelt es sich um ein geradezu erschütterndes Filmdokument, um erschütternde acht Minuten Filmaufnahme (s. Yt, es liegt auch vor: hier und hier mit englischen Untertiteln). Es handelt sich um jene acht Minuten, in denen sich die Weltkarriere der Sopranistin Sumi Jo entschied. Das Besondere und die Seltenheit dieser Filmaufnahmen besteht darin, daß hier der Zuschauer einmal unmittelbar daneben sitzen darf, wie eine solche außergewöhnliche Musikbegabung - quasi mitten aus der Alltagsarbeit heraus - von einem begabten, schöperischen Menschen wie Karajan entdeckt wird.


Bekannterweise hat er viele der begabtesten Musiker unserer Zeit entdeckt. Es sei nur an die Geigerin Anne Sophie Mutter erinnert. Aber natürlich war nicht in jedem Fall ein Filmteam - geradezu wie "nebenbei" - dabei und filmte mit. Man wird also selten so unmittelbar das Geschehen nacherleben können wie hier, würde es auch noch so anschaulich in Worten der Erinnerung nach wiedergegeben werden. In diesen acht Minuten teilt sich dem Zuschauer also die ganze Unmittelbarkeit der Szene mit. Und das ist der Grund, weshalb es sich um aufwühlende Aufnahmen handelt. Man erhält hier quasi einen unverhüllten Blick tief in den "Urquell der Kultur" hinein.

Das Besondere an dieser Aufnahme ist im übrigen nicht nur Reife und Gelassenheit der Äußerungen des 79-jährigen Herbert von Karajan. Das Besondere liegt auch in der unglaublichen Bescheidenheit, ja, in der Andächtigkeit der bei ihm zum ersten mal vorsingenden, noch sehr jungen Sumi Jo. Sie hatte immer schon - wie wir aus ihren späteren Erzählungen wissen - eine große Verehrung für Herbert von Karajan. Sie erzählte, daß sie sich ihr Studium in Rom sehr schwer hatte erarbeiten müssen, daß sie diesem aber fast jede Stunde des Tages widmete, und daß sie schon während dieses Musikstudiums immer ein Bildnis des hoch verehrten Karajan in ihrem Zimmer hängen hatte. Und so versteht man es vielleicht noch etwas besser, daß ihre Äußerungen auch in dieser Filmsequenz von einer großen Andächtigkeit ihm gegenüber getragen sind.

(Man wünschte sich manchmal auch ein bisschen mehr Respekt und Andächtigkeit gegenüber den großen kulturellen Begabungen sonst in unserer Zeit. Mathilde Ludendorff führt es mehrfach aus, daß das andächtige Lauschen auf das Große, das begabte Menschen zu sagen haben, eine Stärke des ostasiatischen Seelentums ausmacht.)

Es heißt, eine solche Stimme wie diejenige von Sumi Jo gäbe es nur ein oder zwei mal innerhalb einer Generation (s. Laphil).

Was geschieht in der Filmsequenz?


Es ist alles "wie im Film". Aber es ist zugleich so real wie es im Film niemals nachgespielt werden könnte. Ein Stoff von epischer Größe: Da kommt ein schüchternes Mädchen zum Vorsingen zu Herbert von Karajan, dem weltberühmten Dirigenten. Sie nennt ihn - wie alle - den "Maestro". Eine Arie von Johann Sebastian Bach hat sie vorbereitet. Nachdem sie mit der Probe derselben durch sind, fragt Karajan, was sie zu Ostern nächstes Jahr vor hätte. Sie sagt, "ach, nichts Besonderes", sie weiß nicht genau (was ihr Manager geplant hat), vielleicht singt sie in Seoul "Rigoletto" oder "Königin der Nacht". Und Karajan antwortet: "Das glaube ich nicht! Das ist zu beängstigend. Sie müssen wissen, das geht wie ein Maschinengewehr ..." Er meint die schnelle Aufeinanderfolge der hohen Töne.

Und sie sagt, sie könne die "Königin der Nacht" singen, es würde auch schon aufgenommen. Karajan sagt aus dem Erstaunen heraus, daß sie eines Tages auch für ihn singen würde. Und er zögert. Und er sagt dann: Ja, aber warum nicht gleich hier - und jetzt? Und sie antwortet überrascht: Was, jetzt? Aber da hat der Pianist schon angefangen zu spielen und sie soll prompt einsetzen ... . . .   .   .   .

- - - Und ein Jahr später singt sie. Für Herbert von Karajan auf den berühmtesten Musikfestspielen der Welt. Zu Ostern in Salzburg. Und eine große Sopranistinnen-Karriere hat begonnen. Herbert von Karajan nannte sie eine "Stimme des Himmels".

- Und man kann nur fasziniert sein von dieser Aufnahme. Wie unkompliziert das abläuft bei Musikern, Künstlern. Und man sagt sich: So ist Leben. So muß Leben sein. So und nicht anders. Großzügig und von Größe erfüllt und dabei doch von größter Einfachheit, geradezu wie "nebenbei", lässig.

Hier noch eine exaktere Wiedergabe dieses Gespräches (Sumi Jo ist übrigens zusammen mit der heute ebenfalls bekannten italienischen Opernsängerin Cecilia Bartoli zum Vorsingen gekommen):
Während der Bach-Arie unterbricht Karajan sie bei einem hohen Ton und sagt: "Das muß ein bißchen härter gesungen werden." Und er winkt ab: "Wenn es falsch ist, macht das gar nichts, wir können es immer korrigieren." Sie singt es noch einmal und Karajan sagt: "Nun war es gut. Nun war der 'Angriff' gut. Es ist als würde etwas explodieren." Und auf ihr nickendes Zustimmen sagt er: "Sie sind sehr intelligent. Nein, nein, wirklich, Sie haben einen Sinn dafür. Man muß es Ihnen nur sagen." - "Noch einmal." Danach freut sich Karajan und sagt irgend etwas Zustimmendes wie: "Gut, meine Liebe, diesmal machten Sie es sehr gut". Und dann: "Nun kommen wir zu ... (?). Was sie jetzt lernen müssen, anfangen müssen zu lernen, ist der ebenmäßige Fluß der Musik. Und das ist hier die allerwichtigste Sache. ..."

Und dann überlegt er und fragt: "Was machen Sie zu Ostern nächstes Jahr?" - "Nächstes Jahr? Ostern? Nichts so Besonderes." - "Sie gehen nach Seoul?" - "Ich werde die 'Königin der Nacht' singen oder 'Rigoletto'." - Karajan hat nicht richtig verstanden: "Sie singen was?" - "'Königin der Nacht'." - "Sie singen die 'Königin der Nacht'?" - "Ja." - "Das ist nicht wahr! Nein, das ist nicht wahr." - "Ich liebe es auch nicht ... Es ist zu schwer." - "Wirklich? Ja, haben Sie es schon gesungen? Oder werden Sie es singen?" - "Ich werde es singen. Ich kann es. Ja, ich habe eine Aufnahme zu machen mit Philipps." - "Wer ist der Dirigent?" - "Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts." - Karajan ... nimmt die Bach-Noten vom Tisch und bedeckt damit sein Gesicht. Sie fragt: "Warum? Mögen Sie es nicht?" Karajan: "Nein, weil: ich kann nicht wirklich sagen, warum. Denn es ist eine Sache, die ist hart zu machen. Wenn es eingeübt ist, dann ist es wirklich wie ein Maschinengewehr. Rrrrtatatata. Beängstigend!" - Sie blickt zu Boden. - "So, was mache ich nun mit Ihnen?" - Er streift sich mit der Hand über den Kopf und sagt: "Eines Tages, da werden Sie aber für mich singen!" Und nach einigem Zögern: "Na gut, warum eigentlich singen Sie es nicht für mich?" - Sie lächelt, hat es noch gar nicht begriffen, was er will. In der Zeit klingen schon die Klaviertöne. Karajan hat dafür das Zeichen gegeben. Und erst jetzt beginnt ihr zu dämmern, was er will. Und sie fragt: "Jetzt?"

- Und jetzt kommt die schönste Szene: Sie verdreht die Augen in dem Sinne: Das ist doch unmöglich. Und dann singt sie auch schon los. Zwischendurch unterbricht sie sich, lacht: "Ich hab doch gar keine Noten!" - Aber Karajan blickt sie voll an und hört ihr gespannt zu. Sie singt weiter.

Und dann, als sie durch ist, ruft Karajan irgend etwas Erstauntes. - Und sie immer noch ganz aus dem Häuschen: "Maestro, das ist doch unmöglich! In meinem Kopf dreht sich alles!" Alle lachen. Und sie sagt noch irgend etwas Unverständliches. - Karajan aber schüttelt nur den Kopf: "Ich kann es immer noch nicht glauben." Sie sagt: "Am Abend, da kann ich es singen." Karajan winkt beschwichtigend ab und sagt: "Sie müssen wissen: Ich höre immer das, was ich hören will." Sie wirft noch irgend etwas ein. Doch Karajan darauf: "Nein, das ist gut. Natürlich ist es eine andere Sache (am Abend). Aber wie Sie es singen ist es rein (sauber) wie nur irgendwas." Und: "Wo werden Sie es aufnehmen?" Sie: "Ich weiß nicht. Denn mein Manager kümmert sich um alles." Er: "Sie können es singen. Da gibt es keinen Zweifel. Aber es muß durchgearbeitet werden. Ich weiß, was es heißt: Sonntag Abend ist die erste Probe. Und dann singen Sie. Unten ist das Orchester, das niemals Piano spielt. In einem durch Mezzoforte. Und der Dirigent gibt Ihnen Zeichen, daß er Sie nicht hört auf der Bühne, Sie sollen lauter singen. ... Und dann singen Sie es Dienstag und Donnerstag und am Samstag und zehntausend Dollar und sie gehen weg. Und das bißchen von Ihrer Stimme haben Sie verloren." - Sie: "Haben Sie vielen Dank für Ihre Ratschläge ..." - Er: "Warum schauen Sie so traurig?" - Sie: "Ich bin nicht traurig." Und dann endet Video. Leider!
Vielleicht kann auch die - und sei es nur vermeintliche - hier angedeutete Trauer eine Deutung erfahren. Denn mit dieser Szene legte sich ein schweres Schicksal, eine schwere Verantwortung noch auf eine sehr junge Sängerin. Vielleicht lauschte sie auch nur den ersten Ahnungen hinterher, die das für sie bedeuten sollte. - Die erstellte Filmdokumentation geht dann weiter mit einer Konzertprobe mit Karajan. - - - Auf Youtube finden sich noch allerhand schöne Aufnahmen von Sumi Jo. Vielleicht sollte die folgende Auswahl diesbezüglich noch einmal überprüft werden (da sie schon 2007 zusammen gestellt wurde entsprechend des damals Vorhandenen). Aber sie bleibe erst einmal so stehen.



Hier singt sie die "Königin der Nacht" und es wird ein kleiner Überblick über die "Legende" dieser Sängerinnen-Karriere gegeben (Yt).



Hier singt sie den "Frühlingsstimmen" -Walzer von Johann Strauß,
Die Lerche in blaue Höh' entschwebt,
der Tauwind weht so lau;
sein wonniger milder Hauch belebt
und küsst das Feld, die Au.
Der Frühling in holder Pracht erwacht, – ah, ah, ah –
alle Pein zu End' mag sein,
alles Leid, entfloh'n ist es weit!

Schmerz wird milder, frohe Bilder,
Glaub' an Glück kehrt zurück;
Sonnenschein – ah – dringt nun ein, – ah –
alles lacht, ach, ach, erwacht!
Sonnenschein …

Die Lerche in blaue Höh' entschwebt, …



Hier singt sie "Wiener Blut" von demselben.
Ich spür' es,
das Wiener Blut.
Wiener Blut,
Wiener Blut!
Eig'ner Saft,
Voller Kraft,
Voller Glut,
Du erhebst,
Du belebst
Unser'n Mut!
Wiener Blut!
Wiener Blut!
Was die Stadt
Schönes hat,
In dir ruht!
Wiener Blut,
Heiße Flut!
Allerort
Gilt das Wort:
Wiener Blut!
Und hier erzählt sie ein bißchen, wie sie sich auf einen Auftritt vorbereitet. Und hier gibt es ein sehr interessantes 25-minütiges Interview aus dem Jahr 2005 mit Sumi Jo im "New York Public Radio", in der sie einiges über ihr Leben und ihren Beruf erzählt. Auch über die Oper des nächsten Abends "La Sonambula" ("Die Schlafwandlerin"), eine Oper des Italieners Vincenzo Bellini (1801-1835).

- - - Wenn man also einmal im Leben nicht mehr weiter weiß, ... dann kommt - vielleicht, mitunter - eine "Stimme von Himmel". Und die sagt einem dann wieder, wozu dieses Universum, dieses Leben, diese Welt gut ist. Möglicherweise nur allein um der Schönheit des Lebens willen, die sich in solcher Musik ausdrückt. Und damit Leben und Kunst, Kunst und Leben wieder miteinander verschmelzen, so wie es vor Urzeiten war.

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  1. Ludendorff, Mathilde: Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen. Ludendorffs-Verlag, München 1936
  2. Bading, Ingo: "Das Genie ringt sich durch" - Ein weiser Satz oder Irrtum? In: Die Deutsche Volkshochschule - Digitale Zeitschrift, 25. Dezember 2012, http://fuerkultur.blogspot.de/2012/12/das-genie-ringt-sich-durch-ein-weiser.html
  3. Froemke, Susan; Gelb, Peter; Dickson, Deborah: Karajan at the Salzburg Festival. Rehearsal (Probe) and backstage from the Salzburg Festival. Deutsch: Karajan in Salzburg, 1 h 22 min, Sony, 1988, http://www.medici.tv/en/documentaries/karajan-in-salzburg-deborah-dickson-susan-froemke/, auch https://www.youtube.com/user/cagin/videos


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/zuerst 2007 auf Stud. gen.;
hier neu eingestellt am 2.6.17,
überarbeitet 16.6.17/